Wunder an der Weichsel

Stephan Lehnstaedt, FAZ:

Deutlich komplizierter war die Situation in Litauen, das wie Polen Wilna besitzen wollte. Ende 1918 waren zudem die Bolschewiki auf dem Vormarsch und konnten die Stadt einnehmen – sie waren der natürliche Verbündete für die Litauer, die sich der polnischen Übermacht erwehren mussten. Wie auch die Westukrainer suchten sie die Nähe Moskaus nach dem Motto: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Es half ihnen allerdings nichts, Piłsudski ließ seine Kavallerie gegen die Empfehlung seines Generalstabs vorstoßen und handstreichartig Wilna einnehmen.

Am 7. Mai war Kiew zum ersten Mal seit mehr als 250 Jahren wieder in polnischem Besitz – die Einwohner erlebten den 15. Herrschaftswechsel in nur drei Jahren.

So leicht wie Stalin in der Sowjetunion fiel es den polnischen Kommunisten nach 1945 nicht, Geschichte ungeschehen zu machen. Piłsudski, der glühende Nationalist, der ein Land in ganz anderen Grenzen als denen von 1945 erfochten hatte, durfte dennoch nicht mehr als Held firmieren. Für die Gegner des Staatssozialismus wiederum war es geschichtspolitisch höchst attraktiv, das Bild des Pater Patriae mit dem des Siegers über die Rote Armee, den Kommunismus und Russland zu verschmelzen. Auf diese Weise trat der Deutungsstreit über den polnisch-sowjetischen Krieg in eine neue Phase.

Diese Interpretationslinie ist bis heute dominierend. Piłsudskis „Wunder an der Weichsel“ war demnach ebenso sehr heldenhafte Selbstrettung Polens wie die Bewahrung ganz Europas vor dem Bolschewismus. Der Krieg wird in dieser Sichtweise zur reinen Verteidigung gegen einen bösartigen Aggressor.

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